
Anne M. Schüller
Früher dominierten berechenbare Absatzmärkte, die man planmäßig steuern und abschöpfen konnte. Doch diese Zeiten sind längst vorbei. Der digitale Umbruch, unerwartete Ereignisse und permanente Vorläufigkeit fegen fast alle vertrauten Spielregeln hinweg. Zukunftsbilder sind ein Ausweg aus diesem Dilemma.
Für die Zukunft können wir aus den Wirtschaftsannalen einiges lernen. So löste einst auf den Weltmeeren das Dampfschiff das Segelschiff ab. Kein einziger Hersteller von Segelschiffen meisterte diesen Technologiesprung. Ganz im Gegenteil: Die Alteingesessenen versuchten, der neuen Antriebskraft mit mehr Segeln Paroli zu bieten, statt die Sache ganz und gar neu anzugehen. Und das ist fast überall so. Die Glühbirne wurde nicht von einem Kerzenhersteller, das Auto nicht von einem Postkutschenbauer und das internetbasierte Bezahlen nicht von einer Bank erfunden.
„Kacheln im Handy?
Die Leute wollen telefonieren“
war sich ein Nokia-Oberster sicher. Er hatte keinerlei Vorstellungskraft, wozu „diese komischen Kacheln“ gut sein könnten. Am Ende waren 60 Prozent Weltmarktanteil und 50.000 Arbeitsplätze futsch. Geschichten wie diese gibt es, wie jeder weiß, leider unendlich viele. Doch die meisten Manager glauben, wenn ich sie frage, ihnen könne das nicht passieren. Sie lachen über Nokia und merken nicht, dass sie womöglich selbst das nächste
„Nokia“ werden.
Wieso das passieren kann?
Der etablierte Anbieter ist Experte für eine Technologie, sagen wir Segelschiffe. In seinem Unternehmen arbeiten lauter Segelschiffbau-Experten, jedoch kein einziges Talent für den Antrieb mit Dampf. Wird dieser Anbieter nun angegriffen, verstärkt er seine Anstrengungen in seiner Kernkompetenz, wird also mehr vom Alten noch besser machen, weil es das Einzige ist, was er kann. Zudem wird er die Stärken des Neuen herunterspielen, weil er sie selbst nicht hat – oder, schlimmer noch, weil er sie nicht mal als solche erkennt. Zum Beispiel? Ex-Siemens-CEO Joe Kaeser nannte Elon Musk einst einen Kiffer, der von Peterchens Mondfahrt träume. Doch siehe da: Längst führt Musks Firma SpaceX kommerzielle Flüge ins Weltall durch. Die dazu benötigten Trägerraketen kommen heil zur Erde zurück und sind wiederverwendbar, etwas, das nicht einmal der NASA gelang.
Der Weg zu den Honigtöpfen der Zukunft
Die neuen Player der Wirtschaft begeben sich erst gar nicht auf Aufholjagd. Sie versuchen auch nicht, alte Technologien aufzupeppen. Sie überspringen sie einfach. Herkömmliche Branchengesetze sind ihnen komplett egal. Gewohntes wird radikal infrage gestellt. Unbekümmert kreieren sie die Dinge völlig anders und neu. Dabei entstehen Innovationen, die die Welt so umfassend verändern wie niemals zuvor. Mit Nischengespür ergreifen sie jede Chance, die sich durch die voranschreitende Digitalisierung ergibt. So haben sie längst eine Parallelwelt erschaffen, die sich der Old Economy, wenn überhaupt, höchstens ansatzweise erschließt.
Der digitale Umbruch fegt durch fast alle vertrauten Spielregeln hinweg. Unerwartete Ereignisse lauern an jeder Ecke. Permanente Vorläufigkeit ist die neue Normalität. „Steuerung und Regelung sind gebunden an Stabilität, an die Vorhersagbarkeit zukünftiger Entwicklungen“, schrieb der viel zu früh verstorbene Systemforscher Peter Kruse bereits vor einer Dekade, und weiter:
„Für die Zukunft wird offenbar eine nächste Stufe der organisatorischen Intelligenz erforderlich: die Bildung von horizontalen, hierarchie- und bereichsübergreifenden Netzwerken, in denen Einzelne und Teams in freier Dynamik miteinander kooperieren.“ Klar, geredet wird über all das schon lange. Doch das Wesentliche bleibt viel zu oft unangetastet. Man dreht zwar an kleinen Schräubchen, nicht aber am großen Rad. Vieles bleibt im „Eigentlich müsste man … “ stecken und hat zu wenig Wumms. „Verbale Aufgeschlossenheit bei anhaltender Verhaltensstarre“ nenne ich das. Wer die Zukunft tatsächlich erreichen will, kann sich das keinen Tag länger leisten.
Der erste Schritt: Zukunftsbilder kreieren
Zukunftsbilder kreieren? Für welche Zukunft denn überhaupt? Niemand kennt die Zukunft. Doch Zukunft passiert nicht einfach so, sie wird gemacht. Und es kann uns gelingen, ihr die Ungewissheit zu nehmen, indem wir Hypothesen erstellen für eine Zeit, die noch nicht da ist. Zunächst denken wir uns in den langfristigen Zeithorizont rein. So haben Futurologen und Zukunftsforscher mithilfe wissenschaftlicher Methoden Szenarien für eine Vielzahl von Technologien und Industrien entwickelt. Solche Szenarien sind keine Prognosen, sondern spekulative Zukunftsbilder, die zum Nachdenken anregen sollen. Indem man sich damit befasst, springt man raus aus der Filterblase der eigenen Wahrnehmung und bleibt kontinuierlich an den Trendthemen dran. Jährliche Strategiemeetings und Jahresplanungen reichen längst nicht mehr aus. Dreimonatige Updates sind Minimum, damit das Neue im gesamten Unternehmen rasch Fuß fassen kann.
Die systematische Suche nach der Zukunft
Trendanalysen, Online-Recherchen, Insights aus vorausschreitenden anderen Branchen, Gespräche mit Zukunftsexperten und denen, die neue Technologien in die Welt bringen, bilden die Grundlage für die Vorausschau. Wen Sie nicht befragen: Ihre Kunden. Diese können zwar sagen, was ihnen heute fehlt, aber nicht, was sie in fünf oder zehn Jahren wollen werden. Sie sind, genauso wie die allermeisten Führungskräfte, keine Experten für Zukunftstechnologien und können deshalb auch keine Prognosen abgeben. Die systematische Suche nach zukünftigen Wachstumsfeldern kann gar nicht früh genug beginnen. Hierzu empfehle ich, drei Szenarien zu entwickeln:
- ein Beste-aller-Welten-Szenario,
- ein Sehr-wahrscheinlich-Szenario,
- ein Schlimmster-Alptraum-Szenario.
Um die Zukunft nicht aus der Vergangenheit heraus linear fortzuschreiben, wie man dies früher tat, bedienen wir uns der Retropolation, auch Backcasting genannt. Dabei wird – ausgehend vom Wunschszenario im Zieljahr – in festgelegten zeitlichen Schritten rückwärtsgehend abgeleitet, was jeweils bis zu einem bestimmten Zeitpunkt getan sein muss, damit die erwünschte Zukunft Wirklichkeit werden kann. Man fragt zum Beispiel so: „Wenn wir in fünf Jahren ein Zielbild X erreichen wollen, welche Maßnahmen müssen in vier, drei, zwei, einem Jahr ergriffen worden sein, um dorthin zu gelangen?“
Drei Megatrends gelten für alle Branchen
Egal, was die Zukunft dem einzelnen bringt, jeder sollte sich selbstkritisch mit Fragen wie diesen befassen:
- Wie integrieren wir Sustainability in unsere Geschäftsmodelle? Betreiben wir nur „Fassadennachhaltigkeit“? Oder ist unser Einsatz aufrichtig und umfassend?
- Wie integrieren wir KI in allen Bereichen? Welchen Nutzen bringt sie unseren Kunden und uns? Wo und wie digitalisieren wir, was digitalisiert werden kann?
- Wie erreichen wir „Customer first“? Was sind unsere wunden Punkte in Sachen Kundenzentrierung? Wo sind wir besonders angreifbar? Was bringt uns voran?
- Welcher Trend kann unser derzeitiges Geschäftsmodell ruinieren? Wo lauern potenzielle Angreifer? Wie können wir gute Startups als Beschleuniger nutzen?
- Wer & was hindert uns intern am meisten daran, das Notwendige schnellstens anzupacken? Wie schaffen wir Barrieren und Bremsendes rasch aus dem Weg?
- Welche Mitarbeitenden, sprich welche Persönlichkeitstypen, Fähigkeiten & Expertisen werden wir in Zukunft brauchen? Wie gewinnen wir diese frühzeitig?
- Wie schaffen wir reichlich Experimentierraum für Top-Talente, die sich als Pioniere, als Bahnbrecher und Übermorgengestalter für uns ins Neuland wagen?
Darauf aufbauend entstehen Maßnahmenpakete in drei Megatrend-Bereichen: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Innovation. Ich nenne dies die Erfolgstriade der Zukunft. Hohe Innovationskompetenz verhilft zu transformativen Geschäftsmodellen in attraktiven Zukunftsmärkten, und diese fordern ein umweltschonendes und zugleich menschenfreundliches Handeln. Zudem brauchen wir Neugier, Zuversicht, Wagemut, Tatkraft und Entschlossenheit: als Individuum, als Unternehmen und als Gesellschaft. ///
Kernaussage
Unternehmen, die in alten Denkmustern verharren, riskieren den Anschluss – doch die Zukunft wartet nicht. Anne M. Schüller zeigt, dass erfolgreiche Unternehmen nicht versuchen, das Bestehende zu optimieren, sondern radikal neu denken. Zukunftsbilder sind dabei der Schlüssel, um Unsicherheiten zu überwinden und neue Chancen frühzeitig zu erkennen. Wer den digitalen Wandel, Nachhaltigkeit und Innovation nicht aktiv in seine Strategie integriert, könnte schon bald das nächste „Nokia“ sein. Veränderung ist kein Risiko – sie ist die einzige Konstante, die Unternehmen langfristig erfolgreich macht.