Europa vs. Japan – zwei Kulturen, zwei Wege zur Exzellenz?

Einblicke hinter die streng verschlossenen Tore japanischer Unternehmen – Interim-Manager Robert Reseneder berichtet exklusiv von seinen Eindrücken und Gesprächen mit japanischen Senseis.
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Woher kommt die sagenhafte Effizienz in japanischen Produktionen?

Der Auftakt in die Besichtigung japanischer Unternehmen hat mich als Lean-Spezialisten zunächst ernüchtert. Denn nachdem ich meine Straßenschuhe gegen die obligatorischen Fabrikhallen-Pantoffeln ausgetauscht habe, stellte ich fest:

Lean kennt hier in Japan niemand!

Weder am Arbeitsverhalten der Mitarbeiter noch in den Produktionshallen war diese Methode explizit wahrnehmbar. Und sogar auf Nachfrage erntete ich nur verständnislose Blicke. “Lean? Was soll das bitte sein?”
Denn tatsächlich ist Lean für die Menschen in Japan im kulturellen Kontext eingebettet und folgt 3 Prinzipien:

Monozukuri – ものづくり, 物作り
Hitozukuri – ひとづくり, 人づくり
Ishikai – いしかい, 意思会

Qualität als Ergebnis von Respekt, Persönlichkeitsentwicklung und emotionaler Bindung für sinnstiftende Arbeit.

Monozukuri: Qualität ist kein Zufallsprodukt – Dieser Begriff bedeutet wortwörtlich “Dinge machen”. In seiner Bedeutung umfasst er die tiefe Wertschätzung für Materialien, Prozesse und das Handwerk. Qualität betrachten die Japaner als das Ergebnis von Respekt für die Ressource, die Arbeit und das Ziel, Exzellenz zu erreichen. Jeder Mitarbeitende geht davon aus, dass Effizienz und Qualität durch Sorgfalt und Präzision entstehen.

Hitozukuri: Können Sie sich vorstellen, 20% der Zeit einer Führungskraft für kontinuierliches Lernen und Lehren einzuplanen? – Und das in einer Produktionshalle, in der alles wie am Schnürchen läuft und in der man -auch Dank besagter Pantoffeln- bedenkenlos vom blitzblanken Boden essen könnte? Doch in Hitozukuri -der Entwicklung von Menschen- sehen japanische Führungskräfte ihre Aufgabe neben dem Management von Prozessen auch in der Weiterentwicklung ihrer Mitarbeitenden.

Ishikai: Emotionale Bindung & sinnstiftende Arbeit Mitarbeiter sollen in ihrer Arbeit einen tieferen Sinn finden. Das kann durch die Verbindung zum Endkunden oder durch die Bedeutung ihrer Tätigkeit im Gesamtprozess entstehen. Deshalb lädt Toyota die Mitarbeitenden in der Produktion regelmäßig ein, Autohäuser zu besuchen. So sehen sie den Einfluss ihrer Arbeit auf das tägliche Leben der Menschen.

Das respektiert man in Japan vor allem durch Pünktlichkeit und effektives Zeitmanagement:

So entschuldigte sich während meines Aufenthalts in Japan ein Shinkansen-Zugführer für Verspätungen im Sekundenbereich. Aus Respekt gegenüber der Zeit der Reisenden.

Um Bullshit-Talks zu vermeiden, werden zu Meetings nur Personen eingeladen, die für die Teilnehmenden Wert hinzufügen. Oder solche, die mit einem Mehrwert-Nugget aus dem Meeting zurück an ihre Arbeitsstätte gehen können.

Das gefeierte Projekt stellt sich als Klotz am Bein heraus? Dann wird es konsequent gestoppt und als Lernschritt hin zum Erfolg verbucht. Und so ankern die Verschwendungsarten Muda, Muri und Mura (Überflüssiges, Überlastung und Ungleichmäßigkeit) tief in der Kultur der japanischen Gesamtbevölkerung. Sie gelten als intuitives Selbstverständnis und beschränken sich keineswegs allein auf den Arbeitsplatz.

Muda – Verschwendung
vom höchsten Gut
“Lebenszeit”gilt als
die schlimmste

Form der Vergeudung
einer
nicht erneuer-
baren Ressource.

Sichtbar wurde das alltägliche Einbinden dieser Prinzipien für mich unter anderem an folgendem: Vom Kleinkind bis zum Hochbetagten packt hier jeder seinen Müll fein säuberlich ein und entsorgt ihn selbst. Denn öffentliche Abfalleimer sucht man in Tokio vergeblich.

Wie selbstverständlich die Japaner dieses Aufräum-Verhalten ausleben, haben die japanischen Fußballfans und Nationalspieler vor den Augen der ganzen Welt bei der Fußball-WM in Katar bewiesen: Denn nach dem Spiel gegen Deutschland sammelten sie den Unrat in den Rängen ein.
So gehört der kontinuierliche Verbesserungsprozess zum Alltag jedes Einzelnen. Und deshalb übergibt man auch im laufenden Betrieb seinem Nachfolger eigenverantwortlich einen aufgeräumten Arbeitsplatz.

Doch warum wirken trotz all dieser Vorteile Operational Excellence und Lean in Europa häufig wie ein Bauchladen für Unternehmenstools?

Kurzfristig vs. Langfristig

Leider liegt der europäische Fokus häufig auf kurzfristigen Ergebnissen. So reduzieren wir (in bester Absicht und unbewusst) die Anwendung von 5S auf “Ordnung und Sauberkeit”, die man schnell abhaken kann. In Japan hingegen stellt bereits 3S eine umfassendere Philosophie dar, als unsere punktuelle Anwendung von 5S es vermag. Auch stoßen Interim-Manager in Europa häufig auf Veränderungsresistenz.

Weil Dinge schon immer so gemacht wurden und es irgendwie funktioniert hat, spricht man selbst kleinsten Verbesserungen häufig die Notwendigkeit ab- bis ein “Renovierungsstau” entsteht. Erst dann beauftragt man Lean-Spezialisten interimistisch damit, die Produktionsstätte wieder profitabel zu machen. In japanischen Unternehmen hingegen betrachtet man Lean-Prinzipien als authentische und langfristig gelebte kontinuierliche Verbesserungsprozesse (KVP).

Können Europäische Unternehmen von Japanischen Unternehmen lernen?

Müssen wir dabei unsere eigene Identität aufgeben? Nein, denn ein hybrider Ansatz, der kulturelle Stärken kombiniert, bietet enorme Potenziale:
Durch die stärkere Integration von Monozukuri (Wertschätzung für Materiale und Prozesse) im Alltag kann auch in Europa die Wertschätzung dafür gestärkt werden. Ein Verpackungsunternehmen könnte Schulungen einführen, bei denen Mitarbeitende die Herkunft der Materialien, ihre Verarbeitung und deren Relevanz für das Endprodukt verstehen lernen.

Führungskräfte dürfen sich stärker als Coaches verstehen, die Hitozukuri (Weiterentwicklung) jedes einzelnen Menschen in ihrem Team fördern. In einem japanischen Unternehmen beispielsweise durften wir folgendem Morgenritual beiwohnen: Hier zog der Geschäftsführer den Namen eines Mitarbeiters aus einem Gefäß. Alle anderen Mitarbeitenden bedankten sich beim Mitarbeiter und drückten ihm damit ihre Wertschätzung aus. In Toyotas Produktionsstätten halten die Führungskräfte ihre Teams dazu an, Ishikai (Sinnhaftigkeit der Arbeit) stets vor Augen zu haben. Das geschieht auch durch direktes Kundenfeedback. Diese Verbindung zum Kunden gibt der Tätigkeit der Mitarbeitenden einen höheren Sinn und zeigt ihnen, wie ihre Aufgaben in ein größeres Gesamtbild greifen.

Und wer sich jetzt die Effizienz japanischer Produktionen für sein eigenes Unternehmen wünscht, der sollte sich bitte folgende Frage stellen: Wie viel Respekt bringen Sie als CEO oder COO der Zeit und dem Potenzial Ihrer Mitarbeitenden entgegen?

Denn die Kombination der Werte aus Monozukuri, Hitozukuri und Ishikai entscheidet darüber, wie effizient Sie in einer immer komplexer werdenden Produktionswelt agieren können. Doch wie oft halten Führungskräfte Meetings über KPIs, ohne je am Ort des Geschehens gewesen zu sein? Deshalb starten Sie mit kleinen Veränderungen, um Muda (Verschwendung) von Zeit zu minimieren.

Dafür empfehle ich das japanische Prinzip Gemba – dem Arbeiten am Ort des Geschehens. Hier greifen Monozukuri (Wertschätzung für Materialien und Prozesse) und Hitozukuri (Weiterentwicklung des Menschen) nahtlos ineinander. Wenn eine Kennzahl nicht stimmt, begibt sich die Führungskraft an den Ort des Geschehens, um die Ursachen zu verstehen. Ein Werkleiter besucht beispielsweise den Produktionsleiter am Shopfloor, um gemeinsam die Hintergründe einer Abweichung zu analysieren. Das geschieht trotz der in Japan ausgeprägten Hierarchien.

Fragen Sie sich auch, wie Sie die Qualifizierung Ihrer Mitarbeitenden dauer-haft fördern können: Denn mit einer kontinuierlichen Weiterentwicklung begegnen Sie neben dem Fachkräftemangel auch der Fluktuation. Das ermöglichen Sie durch Wertschätzung und emotionale Bindung an Ihre Produktionsstätte.

Für europäische Unternehmen liegt der Schlüssel zum erfolgreichen kontinuierlichen Verbesserungsprozess in der Kombination japanischer Prinzipien mit bewährten methodischen Ansätzen. So können sie ein Umfeld für dauerhaften Erfolg schaffen.

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