Sarah Böning
Schluss mit dem Bauchgefühl: Warum Unternehmen seit Jahren die falschen Leute einstellen
Stellen Sie sich vor, Sie würden Investitionsentscheidungen so treffen, wie in vielen Unternehmen noch Einstellungen entschieden werden: vor allem auf Basis eines Lebenslaufs, eines netten Gesprächs, viel Bauchgefühl und, wenn es gut läuft, ein paar Zahlen und am Ende die Frage: „Passt das vom Eindruck her?“
Genauso laufen bis heute unzählige Recruitingprozesse. Lebensläufe werden im Schnelllauf gescannt, es folgen ein, zwei eher freie Gespräche und dann entscheiden Sympathie, Alter, Hobbys und die berühmten „Jahre an Berufserfahrung“.
Als strategische Beraterin begleite ich Unternehmen dabei, ihre Personalauswahl so auszurichten, dass sie zukunftsfähig ist und einen klaren Wertbeitrag zum Unternehmenserfolg leistet. Immer wieder sehe ich dabei das gleiche Muster: Die Forschung ist deutlich weiter als die Praxis. Wir wissen seit Jahren, welche Methoden in der Personalauswahl funktionieren und welche nicht. Trotzdem wird rekrutiert, als hätte es die letzten 10-20 Jahre an Erkenntnissen und Metastudien nicht gegeben.
Bauchgefühl an sich ist dabei nicht das Problem. Im Gegenteil: Als erfahrungsbasierte Intuition kann es einen gut vorbereiteten, strukturierten Prozess sinnvoll abrunden und Entscheidungen menschlich machen. Gefährlich wird es dort, wo Intuition und alte Mythen die einzige oder dominante Entscheidungsgrundlage sind.
Wer das ignoriert, handelt nicht nur altmodisch. Er nimmt bewusst ein strategisches Risiko in Kauf.
Was das kostet: Wer falsch rekrutiert, zahlt doppelt
Man könnte all das als Detailfragen im Recruiting abtun,wäre, da nicht der Preis, den Fehlentscheidungen verursachen. Im Wesentlichen sprechen wir über zwei große Kostenblöcke:
- Zu langsame Besetzungen:
Unbesetzte Schlüsselrollen bremsen Projekte, Umsatz und Transformation. Teams laufen am Limit, Entscheidungen verzögern sich, Opportunitäten werden verpasst. - Fehlbesetzungen:
Wenn eine Person nach sechs, neun oder zwölf Monaten wieder geht, oder intern so viel Schaden anrichtet, dass ein Wechsel nötig ist, wird es teuer.
Eine realistische Daumenregel aus verschiedenen Zielgruppen: Rund 50 % des Jahreszielgehalts können als Kosten einer Fehlentscheidung entstehen durch Einarbeitung, verlorene Zeit, Reibungsverluste im Team, Demotivation und erneute Suche.
Ein Beispiel aus dem gehobenen Mittelstand: Ein Unternehmen plant fünf Neueinstellungen in Schlüsselrollen, vom Head of über eine Senior-Position und Spezialist:innenrolle bis hin zur Assistenz. Im Schnitt liegen die Jahresgehälter dieser fünf Positionen bei rund 100.000 Euro. Wenn sich im Laufe der Zeit herausstellt, dass diese fünf Besetzungen nicht tragen, sei es, weil die Personen nach kurzer Zeit wieder gehen oder intern „stillgelegt“ werden müssen, entstehen schnell Kosten in Höhe einer Viertelmillion Euro an Folgekosten. Ohne den indirekten Schaden durch verpasste Projekte, Belastung im Team oder zusätzlich entgangene Chancen am Markt mitzuzählen.
Vor diesem Hintergrund ist die Frage, ob man Recruiting „ein wenig moderner“ machen sollte, keine Stilfrage. Es ist eine Frage von Rendite, Risiko und Zukunftssicherheit.
Die Kluft zwischen Wissenschaft und Alltag
In der Eignungsdiagnostik wurden über Jahrzehnte hinweg große Studien und Metaanalysen durchgeführt. Immer wieder ging es um die gleiche Frage:
Wie gut sagt ein bestimmtes Auswahlverfahren voraus, ob jemand in einer Rolle später wirklich erfolgreich sein wird?
Der Fachbegriff dafür: prognostische Validität. Dahinter steckt eine simple Managementfrage: Wie hoch ist die Treffwahrscheinlichkeit meiner Entscheidung, abhängig davon, wie ich auswähle?
Die Botschaft aus der Forschung ist klar: Es gibt Verfahren mit hoher Vorhersagekraft, etwa gut vorbereitete, strukturierte Interviews oder kognitive Tests. Und es gibt Verfahren, die, überspitzt gesagt, nicht besser sind als Raten. Ihre prognostische Validität ist sehr gering und trägt kaum dazu bei, spätere Leistung vorherzusagen. Genau diese „roten Ampeln“ der Forschung sind im Alltag jedoch erstaunlich beliebt. Sie fühlen sich vertraut an, sind schnell umzusetzen und werden doch von vielen Unternehmen weiter genutzt.
Hinter vielen dieser roten Ampeln stehen hartnäckige Mythen. Drei davon begegnen mir in der Praxis besonders häufig und sie sind sehr kostspielig.
Drei Mythen, die für Unternehmen teuer sind
Mythos 1: „Vollständige Unterlagen sind das A und O.“
Vielen Unternehmen stockt kurz der Atem, wenn Bewerbungen ohne Arbeitszeugnisse oder Anschreiben eingehen. „Unvollständig“ gilt dann fast automatisch als „unprofessionell“ und gilt schnell als nicht motiviert genug und landet nicht selten auf dem Absagestapel.
Schaut man in die Daten, wird klar:
Arbeitszeugnisse haben kaum Aussagekraft für spätere Leistungen. Formulierungen wie „stets zu unserer vollsten Zufriedenheit“ sind standardisiert und juristisch geprägt, aber kein valides Steuerungsinstrument. Gleichzeitig sind Arbeitszeugnisse ein DACH-Spezialfall, denn in vielen anderen Ländern gibt es sie in dieser Form gar nicht.
Spätestens, wenn Unternehmen sich auf einem internationalen Talentmarkt bewegen, ist das Arbeitszeugnis damit kein geeignetes oder konsistent nutzbares Instrument mehr.
Klassische Motivationsschreiben, das berühmte DIN-A4-Dokument mit Betreffzeile und Floskeln, liegen in der Prognosekraft ebenfalls im roten Bereich. Heute kommt hinzu, dass viele Texte von KI-Tools formuliert werden.
Für Unternehmen heißt das: Arbeitszeugnisse und klassische Anschreiben sind kein sinnvoller Filter für die erste Auswahl. Wenn Unternehmen diese „Unterlagen-Mythen“ loslassen, werden Prozesse schneller, bewerberfreundlicher und fokussierter aufs Wesentliche.
Mythos 2: „Wir brauchen jemanden mit 5 Jahren Berufserfahrung.“
In vielen Stellenanzeigen finden sich Formulierungen wie „mindestens fünf Jahre Erfahrung“ oder „mindestens drei Jahre Führungserfahrung“. Im Auswahlprozess selbst spielt dann das Bauchgefühl eine große Rolle: Man „merkt im Gespräch schon, ob jemand passt“.
Das Problem:
Die reine Zahl an Berufsjahren hat als Auswahlkriterium in Studien nur eine sehr geringe prognostische Validität, sie sagt so gut wie nichts darüber aus, wie jemand später performen wird. Zehn oder fünfzehn Jahre in einem engen, wenig anspruchsvollen Setting können fachlich weniger wert sein als drei Jahre in einem komplexen Umfeld mit hoher Verantwortung. Die Zahl allein ist kein tragfähiger Prädiktor.
Ähnlich schlecht schneiden unstrukturierte Gespräche ab: also Interviews ohne klar definiertes Anforderungsprofil, ohne Leitfaden und ohne Bewertungslogik. Auch hier zeigt die Forschung: Die Prognosegüte liegt ebenso im roten Bereich. Solche Gespräche fühlen sich oft „gut“ und „stimmig“ an, liefern aber kaum belastbare Hinweise darauf, ob jemand in der Rolle tatsächlich erfolgreich sein wird.
Aus der Forschung wissen wir: Hier passieren die größten Fehler. Nicht weil Führungskräfte „zu wenig Menschenkenntnis“ hätten, sondern weil unser Gehirn systematisch Abkürzungen nimmt. Wir mögen Menschen, die uns ähnlich sind. Wir erinnern uns eher an den ersten oder den letzten Eindruck als an das, was in der Mitte gesagt wurde. Wir gewichten souveräne Rhetorik stärker als leise, inhaltliche Substanz.
Genau deshalb sollten zentrale Personalentscheidungen nicht auf Intuition allein beruhen. Bauchgefühl hat seinen Platz, erfahrungsbasierte Intuition, die einen gut vorbereiteten, strukturierten Prozess abrundet und als Plausibilitätscheck dient. Gefährlich wird es dort, wo es die einzige oder dominante Entscheidungsgrundlage ist.
Wer sechsstellige Personalentscheidungen fast ausschließlich aus dem Bauch heraus trifft, würde ein solches Vorgehen bei Investitionen, M&A oder IT-Systemen vermutlich niemals akzeptieren.
Mythos 3: „Alter, Hobbys und Lücken im Lebenslauf sagen viel über Eignung aus.“
Noch immer werden Lebensläufe nach Alter, Nebentätigkeiten oder Lücken bewertet. Typische, unausgesprochene Annahmen sind:
„Jünger = digitaler“ | „Lücke = unzuverlässig“ und
„Leistungssport = besonders ehrgeizig“
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. Der Haken: Für all das gibt es kaum belastbare Evidenz. Alter und Hobbys haben in Studien eine prognostische Validität von 0,0 – sie sagen nichts über künftige Leistung aus. Und bei „Lücken“ im Lebenslauf stellt sich eher die Frage, ab wann etwas überhaupt als Lücke gilt und was wir eigentlich davon haben, ihren Grund zu kennen.
Welche Schlüsse ziehen wir daraus, außer unserer eigenen Interpretation? Da ist es wieder: das (zu starke) Bauchgefühl.
Entscheidend ist nicht, ob jemand ein Jahr aussetzt oder Marathon läuft. Entscheidend ist, welche Kompetenzen und welches Verhalten jemand in relevanten Situationen gezeigt hat und wie gut diese zu Aufgabe, Team und Kontext passen.
In der Beratungspraxis arbeiten wir daher viel mit einem Perspektivwechsel:
weg von rein biografischen Interpretationen hin zu klaren Kompetenzfragen: „Erzählen Sie von einer Situation, in der … was genau haben Sie getan, was war das Ergebnis?“
Für viele wirkt dieser Ansatz im ersten Moment weniger spektakulär als vermeintlich „tiefe“ Lebenslauf-Analysen. Tatsächlich ist er treffsicherer, relevanter für den späteren Berufserfolg und sorgt für inhaltlichen Tiefgang im Interview.
Drei Hebel, die Entscheider*innen jetzt in die Hand nehmen sollten
Die gute Nachricht: Es braucht keinen Konzernapparat, um deutlich bessere Entscheidungen zu treffen. Drei Hebel reichen als Start, gerade auch im Mittelstand.
1. Klarheit vor Kandidaten: Anforderungsanalyse als Pflicht, nicht als Kür.
Bevor Sie auch nur eine Bewerbung ansehen, sollten drei Punkte klar sein:
Rolle und Ergebnis: Was soll die Person in 6-12 Monaten konkret erreicht haben? Woran würden Sie eine erfolgreiche Besetzung erkennen?
Kompetenzen statt Stichworte: Welche 3-5 fachlichen, methodischen und sozialen Kompetenzen sind wirklich erfolgskritisch? Nicht „dynamisch“, „teamfähig“ und „hands-on“, sondern konkret: z. B. „entscheidet unter Unsicherheit“, „kann Stakeholder-Konflikte moderieren“.
Must-haves vs. Nice-to-haves: Was ist nicht verhandelbar und was wäre nur „schön zu haben“?
In vielen Projekten, in denen ich gemeinsam mit Geschäftsführung und Fachbereichen eine saubere Anforderungsanalyse erarbeite, ist das bereits der Gamechanger: Plötzlich wird klar, dass manche „Standardsätze“ in Stellenanzeigen schlicht nichts mit der Realität der Rolle zu tun haben.
2. Struktur statt Zufall: Auswahlprozesse vereinfachen, aber bewusst
Sie brauchen keinen 30-seitigen Kompetenzkatalog. Oft reicht ein schlankes, aber konsequent angewendetes Set an Bausteinen:
Interviewleitfaden mit wenigen, gezielten Fragen pro Kompetenz.
Bewertungsbogen mit einer einfachen Skala (z. B. 1-5) und zwei, drei Ankerbeispielen.
Und wo sinnvoll, sollten valide eignungsdiagnostische Verfahren gezielt eingesetzt werden, etwa kognitive Tests, die eine hohe Prognosegüte für späteren Berufserfolg haben.
Rund um solche Tests hält sich hartnäckig der Mythos, sie seien unattraktiv für Kandidat:innen oder nur für akademische Berufsbilder geeignet. Das stimmt so nicht. Heute lassen sich kognitive Verfahren für sehr viele Zielgruppen von White- bis Blue-Collar-Rollen sinnvoll einsetzen und so in den Prozess integrieren, dass sie als fairer, transparenter Baustein wahrgenommen werden. Wenn Unternehmen klar erklären, warum sie testen und wie die Ergebnisse genutzt werden, erleben viele Bewerbende diese Schritte als Wertschätzung: Sie bekommen die Chance, Stärken zu zeigen, die im Lebenslauf oder im Gespräch leicht untergehen.
3. Haltung und Governance: Recruiting als Chefsache begreifen
Viele der angesprochenen Mythen halten sich, weil sie unbewusst weitergegeben werden: von Führungskraft zu Führungskraft, von „So haben wir das immer gemacht“ zu „Das steht bei uns in jeder Anzeige“. Hier sind Entscheider gefragt, einen Rahmen zu setzen:
Welche Kriterien sind in unserem Unternehmen explizit kein Entscheidungskriterium mehr (z.B. Alter, Hobbys, Lücken, „perfekte“ Unterlagen)?
Wo verpflichten wir uns bewusst auf strukturierte Elemente, etwa bei Schlüsselrollen ab einer bestimmten Gehaltsschwelle?
Wie stellen wir sicher, dass HR und Fachbereich beim Wissensstand zur Personalauswahl nicht meilenweit auseinanderliegen?
In meiner Arbeit mit Geschäftsführungen erlebe ich: Sobald klar wird, welche Kosten langsame oder falsche Besetzungen wirklich verursachen, verschiebt sich der Blick. Recruiting wird vom „HR-Thema“ zum strategischen Steuerungshebel mit entsprechender Aufmerksamkeit auf Top-Level.
TIPP: Wer fachlich tiefer in das Thema einsteigen möchte, dem empfehle ich den YouTube-Kanal von Prof. Dr. Uwe Peter Kanning („UwePeterKanning“). Dort werden zentrale Erkenntnisse aus der Eignungsdiagnostik in kurzen (15 Min.), gut verständlichen Videos mit Zahlen, Daten und Fakten aufbereitet.
Eine wichtige wissenschaftliche Grundlage sind unter anderem die Arbeiten von Schmidt & Hunter (1998) sowie Sackett, Zhang, Berry & Lievens (2021), die auf Basis vieler Meta-Analysen zeigen, welche Auswahlmethoden tatsächlich eine hohe Validität besitzen und welche nicht.
Für Ihre nächste Besetzungsrunde
Zum Schluss drei Fragen, mit denen Sie Ihre nächste Einstellungsentscheidung spiegeln können:
- Worauf stützen wir unsere Entscheidung heute wirklich, auf Daten oder auf Mythen?
- Welche unserer Auswahlkriterien haben nachweislich etwas mit späterer Leistung zu tun und welche sind nur Gewohnheit?
- Würden wir bei einer Investition in dieser Größenordnung genauso wenig strukturierte Informationen akzeptieren wie bei der Einstellung von Mitarbeitenden?
Wenn Sie hier ins Nachdenken kommen, ist das kein Zeichen von Schwäche. Es ist ein Zeichen von Professionalität. Denn am Ende geht es nicht darum, das perfekte Recruiting zu haben. Es geht darum, unternehmerische Verantwortung ernst zu nehmen: für die Menschen, die Sie einstellen, für die Teams, die mit ihnen arbeiten, und für die Zukunftsfähigkeit Ihres Unternehmens.
Wer weiterhin fast ausschließlich nach Bauchgefühl und alten Mythen einstellt, darf sich über Arbeitskräftemangel und Fehlbesetzungen nicht wundern: Er produziert sie selbst. Genau deshalb ist jetzt der richtige Zeitpunkt, im Recruiting, mit Mythen und Bauchgefühl aufzuräumen und mit dem zu arbeiten, was wir längst wissen.