Sabine Hübner
Be Real!
Nur noch KI im Kundenkontakt? Lassen Sie es lieber sein. Die Zukunft gehört echter Menschlichkeit und sie ist Millionen wert.
Ein Loch im Zaun. Nichts Großartiges. Aber Sie wissen, was dann passiert: Abends auf dem Spielplatz in der Nachbarschaft spielen sich plötzlich Szenen ab, die man lieber nicht sehen möchte. Also schreibe ich dem Bauamt – sachlich, freundlich, mit der Bitte um Kenntnisnahme und Lösung.
Schon am nächsten Tag: Antwort! Überraschend genug. Was mich aber wirklich verblüfft hat: Es war eine echte Nachricht, geschrieben von einem echten Menschen. „Hallo, hier ist Herr Müller. Vielen Dank für den Hinweis. Ich habe bereits eine Baufirma beauftragt, die das Loch bis Ende des Monats schließt.“ Und die Mail endete mit „Trotzdem ein schönes Wochenende…“ Da war es, das WOW – ein-echter Mensch!-Moment: Jemand meldet sich. Mit Namen, mit Lösung, mit Datum und einem persönlichen Satz. Es geht also!
Wie oft aber geht gar nichts. Ich will etwas klären, strande aber irgendwo zwischen schlecht automatisierter Telefonschleife („Sagen Sie Nein!“ „NEIN!!“ „Ich habe Sie nicht verstanden…“), lebensfernen Frage-Antwort-Ausklappmenüs oder einer Customer-Journey, die mich im Kreis führt. Oder: Ich lande in einem Callcenter irgendwo ganz weit weg, wo man leider auch nicht weiterweiß, finde das Kontaktformular nicht, und wenn doch, erhalte ich keine Reaktion. Oder: ein Abo beenden? Um den Abmeldebutton zu finden, sucht man schonmal zwanzig Minuten. Kennen Sie das?
Digital, effizient – doch ohne „echt“ nützt alles nichts
Manchmal entsteht unweigerlich der Eindruck, Unternehmen – von Verwaltungen spreche ich lieber gar nicht – wollen ihre Kundinnen und Kunden eigentlich nicht betreuen, sondern ghosten. Und das genau in dem Pain Point-Moment, in dem wir uns nichts dringender wünschen als einen Menschen, der uns zuhört, der uns ernst nimmt, der konkret hilft. In diesen Pain Point-Momenten braucht niemand eine KI, die, wenn auch grammatikalisch perfekt, Unsinn erzählt. Echt nicht!
Verstehen Sie mich bitte richtig:
Die Digitalisierung hat sehr viele Services verbessert und viele Kundenkontaktpunkte entkompliziert: Wir können heute über Apps wie Doctolib Arzttermine vereinbaren. Wir können unsere Pakete bei allen Logistikern tracken und Versicherungsschäden online melden. Wir bekommen Öffnungszeiten, Wegbeschreibungen, Erinnerungen, Statusupdates. Alles da. Die Digitalisierung selbst ist eine Dienstleistung. Prima!
Und doch: In Kombination mit KI erleben wir derzeit eine neue Dynamik – und hier sehe ich eine doppelte, ja, eine paradoxe Bewegung.
Eine nie gesehene Beschleunigung, Präzision, Perfektion.
Und: ein ebenso nie gesehenes Maß an Praxisferne, auf Hochglanz polierter Beliebigkeit und Unsinn.
Ich meine: Wir wollen immer häufiger zwei Dinge gleichzeitig, die diametral auseinanderstreben:
Perfekte Kommunikation.
Aber natürlich echt.
Glatte Abläufe. Aber mit Herz.
Makellose Menschen, die
trotzdem „authentisch altern“.
Das Paradox der Optimierung
Das führt zu einigen Skurrilitäten: Als Führungskräfte erleben wir Mitarbeitende, die sich kaum mehr zutrauen, Kundengespräche „in echt“ zu führen – aus Angst, sie könnten weniger perfekt antworten als ihre KI-polierten Mails. Und weniger perfekt aussehen als ihr Profilbild.
Als Kunden bekommen wir Mails, die einerseits so vollkommen klingen, dass wir innerlich den Hut ziehen vor den so gut trainierten Menschen im Unternehmen – die aber gleichzeitig so vollgepackt sind mit Ungereimtheiten, dass wir uns letztendlich doch über den schlecht programmierten Bot beschweren. Und erfahren, dass da gar kein Bot saß. Sondern ein Mitarbeiter mit ChatGPT. Der leider doch nicht so gut geschult war. Als Kundinnen und Kunden langweilen wir uns: alles klingt so korrekt, alles klingt gleichförmig. Ich spüre eine wachsende Sehnsucht nach etwas, das durchrutscht. Ein Anflug von Dialekt. Ein schräger Scherz. Hallo? Ist da irgendwo ein Mensch?
„Hallo? Ist da wer?“
Ja, doch, manchmal hat man Glück. Dann meldet sich an der Hotline ein fröhlicher „Martin von der Nordseeküste“, oder ein Flugkapitän startet seine Ansage mit einem Scherz, der alle Passagiere aufatmen lässt: „Einen angenehmen Flug wünsche ich Ihnen, soweit es Ihr Sitznachbar zulässt.“ Chapeau! Das ist echt. Das sitzt.
Aber oft ist da eben niemand. Nicht unbedingt vor Vertragsabschluss, aber danach. Und das bleibt nicht folgenlos. Kunden schalten ab. Oder schalten um auf Gegenkontrolle: dreifach versendete E-Mails, Anrufe „nur zur Sicherheit“, persönliche Übergabe von Briefumschlägen – mit Selfie vorm Hausbriefkasten. Als Beweis. Nach dem Motto: „Ich wollte sicher sein, dass es ankommt.“ Womöglich geht der Brief dann in der Hauspost verloren – der Workflow ist so nicht vorgesehen. Und schon haben alle mehr Arbeit, mehr Ärger, mehr Stress. Willkommen in der Realität der Optimierungsparadoxie.
Was passiert da eigentlich? Fragen wir lieber: Was passiert hier leider nicht? Was fehlt? Ich meine: Hier fehlt das, was Hartmut Rosa „Resonanz“ nennt. Gemeint ist ein Schwingungsverhältnis: Menschmomente zwischen Personen, Experiences zwischen Mensch und Produkt (Stichwort Auto) oder zwischen Mensch und Verkaufsraum (Stichwort Flagship-Store).
Vertrauen braucht Resonanzerleben
Resonanz im direkten Kundenkontakt entsteht, wenn Menschen im Unternehmen wirklich hinhören. Hinfühlen. Und ihre Antwort spontan und echt aus dem Menschmoment schöpfen – statt aus dem Servicehandbuch. Natürlich holpert es dann manchmal ein bisschen. Kommt der Dialekt dazwischen oder vielleicht ein wenig „da muss ich mich kurz schlau machen-Chaos“. Muss man das „wegtrainieren“? Eben nicht! Denn so entsteht Vertrauen. Vertrauen braucht Resonanzerleben.
Wo Resonanz fehlt, fühlt sich der Kunde nicht mehr als Mensch, sondern als Vertragsnummer. Und auch der Mitarbeitende fühlt sich nicht mehr als Mensch, sondern wird zu einem Bot mit CRM-Zugang. Wenn es so weit kommt, verlieren beide Seiten alles, was Menschen im Kern zusammenhält: Motivation, Vertrauen, Loyalität. Und genau das wird durch die Kombination der digitalisierten Kundenschnittstellen und KI noch virulenter. Sprich: zum Businesskiller.
Bei zu großer Perfektion schlägt
das Steinzeitgehirn Alarm
Der Grund für das alles? Ist noch viel älter als die Steinzeit. Tatsächlich tragen wir Menschen ein archaisches Warnsystem mit uns herum. Unsere Sinne scannen die Umgebung permanent auf Signale ab. Lauert irgendwo Gefahr? Interessanterweise sind wir dann am meisten entspannt und produktiv, wenn es überall kleine Variationen gibt: verschiedene Stimmen, verschiedene Felsen und Bäume, verschieden große Äpfel. Das ist der Grund, warum uns KI oft stresst: Alles klingt gleich! Alles sieht gleich aus! Unser Steinzeithirn meldet: „Alarm! Da stimmt etwas nicht!“
Schon schaltet der Körper um auf eine seiner vier archaischen Stressreaktionen: fight, flight, freeze oder fawn. Übertragen auf die Kundenbeziehung heute: Kunden tauchen ab (freeze), werden aggressiv (fight), wechseln zur Konkurrenz (flight) oder versuchen, sich mit Trinkgeldern und anderen Schmeicheleien an den eigentlich festgelegten Service-Workflows vorbeizuschmuggeln (fawn).
Wer Service mit KI personalisiert, ohne dabei aber „in echt“ persönlich zu sein, läuft Gefahr, genau diesen Ur-Stressmechanismus auszulösen. Wundert sich wer über schwierige Kunden? Viele sind nicht „schwierig“. Sie spiegeln nur ein gestörtes Sicherheitsgefühl.
Was dann hilft? Be real.
Service ist das Produkt
Nein – ich bin nicht gegen KI. Ganz im Gegenteil: KI kann so vieles. Aber eben nur innerhalb der Box. Alles basiert auf denselben Datensätzen. Und weil alle dieselbe Quelle nutzen, klingt alles gleich. Mehr noch: Vieles klingt erfunden. Fake! Originalität funktioniert anders. Sie entsteht, wo jemand etwas riskiert. Wo jemand sich traut, zu klingen und zu handeln wie er selbst. So einzigartig unperfekt, wie sie oder er eben nun mal ist. Es sind die Quirks, der schräge Humor, das Thinking-out-of-the-box, das hängenbleibt. Eigentlich ist es einfach.
Der Kern der Sache ist sogar noch einfacher: Service ist nicht das Extra. Service IST das eigentliche Produkt. Es ist das Gespräch am Empfang, es ist die Antwort auf die Mail, es ist die Art, wie jemand nicht automatisiert klingt – all das ist nicht die Verpackung Ihres Angebots. Es ist Ihr Angebot. Es prägt, wie Ihre Kunden Ihr Unternehmen erleben. Ob sie wiederkommen. Oder eben nicht. Egal ob B2B oder B2C. Wer das verstanden hat, denkt das Kundenerlebnis nicht mehr als Extra-Kostenstelle. Sondern als Kern der Wertschöpfung.
Das eigentliche Produkt ist Chefsache
Ja – ob eine Kundin oder ein Kunde sich gut behandelt fühlt, das entscheidet sich in jeder Interaktion: super Beratung, Lösung gefunden, fairer Preis, Lieferung pünktlich, Service perfekt – mit dem Gefühl, als Mensch gesehen worden zu sein. Ob jemand sich gut behandelt fühlt, das entscheidet sich noch mehr am Pain Point: Produkt funktioniert nicht, Überweisung fehlgeschlagen, Rechnung falsch, Telekommunikation OFF. Das heißt: Ob sich jemand gut behandelt fühlt, entscheidet sich nicht „unten“ in der Unternehmenshierarchie. Sondern oben. Im Management.
Denn hier wird festgelegt, wie viel strategische Freiheit Menschen im Unternehmen haben für sinnvolle Lösungen, für kleine Abweichungen, für ihre eigene Sprache. Nur wenn Service auf diese Weise strategisch als Produkt gedacht wird, kann sich persönliche Service-Haltung in einem besonderen Kundenerlebnis realisieren statt in Lippenbekenntnissen hängenzubleiben. Nur dann ist Raum für einen persönlichen Stil statt immer das gleiche Skript. Nur dann gibt es die Chance auf echte Resonanz statt Kommunikation zum Zweck der „internen Absicherung“.
In einer Zeit der Produkte und Services, die vermeintlich immer perfekter werden, tatsächlich aber oft zu mehr Fake, rücken die Unternehmen zu Kunden-Champions auf, die Mitarbeitenden die Freiheit lassen, echt zu sein. Glaubwürdig. Und die Kundinnen und Kunden nicht als Störenfriede sehen, die man sich mit KI-Bots möglichst vom Hals hält, sondern: als echte Menschen. Mit relevanten Bedürfnissen. Für die man gemeinsam Antworten findet. Klar: Das macht Arbeit. Aber seit wann gibt es Loyalität frei Haus? ____